Michael spürt es. Er spürt die warme Sonne auf seinem Gesicht. Er hört die Vögel leise im Hintergrund vor sich hin zwitschern. Nicht lästig, sondern einfach nur als Zeichen des Frühlings. Nicht nur, dass es Michaels Lieblingsjahreszeit ist, nein, es ist zudem noch einer der besten Frühlinge seines Lebens. Dank pre-generationaler CO2-Ausstoßungen kann er sich heute auf sonnige 26 Grad freuen. Und das im März. Dazu kommt ein geordnetes Leben mit jeder Menge Spaß in der Freizeit und guten Karriereaussichten. Erst gestern wurde Michael zum Vize-Abteilungsleiter einer Supermarktfiliale ernannt. Für viele sicherlich kein angestrebtes Berufsziel, aber für ihn das höchster aller Jobgefühle. Solange Spaß mit Lohn einhergeht, ist es der perfekte Job.
Und das allerbeste: Es ist Sonntag. Nicht ein „Ich muss um fünf Uhr raus, um meinem Bruder beim Umzug zu helfen“-Sonntag, sondern ein richtiger. Sorgenfreies Ausschlafen und ein laaanges Frühstück stehen unter anderem auf dem Plan. Michael öffnet langsam die Augen, nimmt den Stift vom IKEA-Nachttisch und macht auf einer kleinen List einen Haken hinter dem Wort „Ausschlafen“. Ja, das muss er schon zugeben. Michael ist verkopft. Verkopft, was ein Wort, aber es passt bei ihm wohl wie die Faust zu Goethe.
Ein paar beherzte Mausklicke, und die am vorigen Abend geordnete Playlist spielt morgendlich auffrischenden Misch-Masch-Mix aus den in der gesamten Wohnung verteilten Boxen. Aufbackbrötchen in den Ofen, Tisch gedeckt, Sonntagszeitung reingeholt, Tisch abgedeckt, Tisch auf den Balkon getragen, Tisch gedeckt. Alles läuft nach Plan. Der Sportteil ist mit Berichten über den gestrigen BVB-Sieg gegen Schalke gefüllt, der Wirtschaftsteil spricht von Aufschwung in Deutschland, und Garfield ist in guter Tagesform. Pling. Die Brötchen sind fertig.
12 Uhr. Die Zeitung in der linken Hand, das geschmierte Brötchen in der rechten. So muss es sein. Doch gerade, als Michael genüsslich in eben diese Zweibelmett-Brötchen-Hälfte beißen will, bemerkt er etwas Eigenartiges. Einen Bindfaden. Direkt um seinen rechten Zeigefinger. Dass er ihm erst jetzt aufgefallen ist… Seltsam. Wie ist er da hingekommen, und was soll das? Eine sorgsam gefertigte Schleife rundet das rätselhafte Gesamtbild ab.
Eins ist klar: Der Faden soll ihn an irgend etwas erinnern. Etwas so wichtiges, dass er seinen obligatorischen Planungsgängen nicht genug vertraut hat. Aber was kann das sein? Michael checkt die für den Tag angefertigte Liste. Ausschlafen, laaanges Frühstück, Musik hören, Spazieren gehen, Baden, bla-blubb. Nur unwichtiges Wochenend-Zeugs. Wenn analog versagt, hilft nur noch Technik. Aber sowohl das Handy, als auch der Computer geben keine sachdienlichen Hinweise.
Jahrestag? Valentinstag? Nein, Michael ist Single. Muttertag, Weltmännertag, oder Welttoilettentag? Nein, die vergisst er nicht. Zumindest die letzten beiden. Geburtstag? Ja, Geburtstag. Das wird es sein. Schnell im StudiVZ eingeloggt. Aber auch hier nichts. Nur in der Gruppe „Ich studiere Supermarktleiter“ gibt es neue Einträge. So langsam wird Michael hibbelig. Den gestrigen Abend kann er aufgrund Unterstützung der norddeutschen Brauerei-Industrie nicht mehr gänzlich rekonstruieren. Aber mit wem er weg war, daran kann er sich noch erinnern. Grob zumindest. Luke war dabei. Genau, Luke. Sein Retter.
Ironisch, dass Michael sich nahezu alle Telefonnummern nach zweimaligem Hören problemlos merken kann, aber ein Bindfaden ihm den Sonntag zerschießt. „Ah, ein Amt“. Das hätte Michael wohl vor sich hingemurmelt, wenn er nicht gerade Luke anrufen würde. „Arg, diese verschissene Tokio-Hotel-Kacke“ hört er sich selbst schreien. Und die Nachbarn sicherlich auch. Denn Luke ist jung und hipp. Okay, er ist 43. Aber im Geiste maximal 42. Und in Sachen Handys auf der intellektuellen Höhe eines Vorschulkindes. Das Blind und Taub sein muss. Denn „Through the Monsoon“ schallt als Hintergrundmusik des Wählvorgangs in Michaels linkes Ohr. Offiziell soll das Lied nur abschreckend für One-Night-Stands und Eltern wirken, aber Michael hat letzten Mittwoch bei Luke einen Tokio Hotel Kalender von 2010 gefunden. Zwei-Tausend-Zehn! Bis dahin ist die Band doch eh aufgeteilt, weil der eine kleine ‚ne Solokarriere versucht, der andere sich ‚nen Tripper fängt und die Frontfrau schwanger wird.
„hmmm? Luke hier…“. Na endlich. „Mensch Luke, wie geh..“ – „Ich bin leider nicht da, aber wenn…“ Düht. Verdammt. Dass er aber auch immer wieder auf diesen „Haha, ich bin gar nicht da, aber tu so, als ob ich da wäre“-Mailbox-Ansagen reinfallen muss. Aber so gut, wie er Luke kennt, ist dieser noch am pennen, und will einfach nur nicht dran gehen. Ein erneuter Gang durch den Monsoon und siehe da: „Jahaaa, Micha! Was ist denn?“ raunzt ein verschlafend klingender Junggeselle aus dem Hörer. „Gut, dass ich Dich erwische. Du, sag mal, ist heute irgendwas Wichtiges?“. „Was Wichtiges? Klar Mann!“. Puh. Wie immer. Der verpeilte Luke soll Michaels Rettung sein. „Heute ist doch Sonntag. Das bedeutet Schlafen bis um 9. Dann heimlich aus dem Schlafzimmer der Perle abhauen, und zu Hause Schlafen bis 16. Und Du Sack musst mich stören.“ Und weg war er. Sowohl der einleuchtende Hinweis, als auch Luke aus dem Reich der Telekom.
Aber es waren doch noch andere Leute da. Gerade, als Michael angestrengt nachdenkt, wen sie des Nachts noch in die Arme gefallen sind, klingelt es diesmal bei ihm. Und zwar an der Tür. Ein kurzer Schalterdruck, ein kurzes Surren, ein langer Zeitraum und ein noch länger anhaltendes Ächzen beschreiben den Weg des UPS-Mannes wohl treffend. „Michael Brink?“ schnaufte es gerade noch hervor. „Ja, genau, der bin ich“. „Mensch, …hehh… in den fünften… hech.. .Stock… fühh… Und das an so einem Tag…“. „Ja, das tut mir leid.“ Aber ist halt Dein Job, Du verdammter postpubertärer-Postbote. Hihi, post-pubertär. „Ähm, wieso gerade an diesem Tag? Ist heute etwas Wichtiges?“. „Naja, schönes Wetter. Wollte noch zum Baggersee…“. „Achso. Naja, danke. Tschüss“ schafft es der Schall gerade noch von Michaels Mund zum Post-Ohr, während die Tür wieder ins Schloss fällt. Warum sollte auch gerade Dietmar von und zu Paketfettie ihm das sagen können…?
Vielleicht hat ja das Paket Antworten. Nein. Das Paket kommt von Michaels Mutter. Und in ihm ist eine Bibel. Ja, eine Bibel. Darin stehen bestimmt keine Antworten. Das Telefon hat Michael immer noch fest im Griff. Wie war noch gleich die Nummer von der Auskunft, die auf wirklich alles eine Antwort hat? Ach ja.. Fußballspieleranzahl, Alter der Oma, keine Ahnung. 11 Spieler, Michaels Oma ist 92 und die Null. „Ah, ein Amt“ ist, was Michael sagen würde, wenn nicht sofort ohne vorheriges ‚Tuuten’ ein Band angesprungen wäre. „Hallo Du kleine Sau. Du wirst sofort mit der nächsten freien Studentin des Mädcheninternats verbunden. Oder willst Du mit Rektorin Mandy sprechen? Dann drücke die 3.“ Hm, eine Rektorin ist auch irgendwie falsch, denkt sich Michael und legt wieder auf.
Der Hörer wird durch die Fernbedienung ausgetauscht, und schnell erscheint ProSieben auf der Flimmerfläche. ‚Ah, heute ist Simpsons-Marathon,’ denkt sich Michael und weist sich daraufhin, dass dies wohl kaum der Grund für sein mehr als rätselhaften Fingerschmuck sein kann. 3 Stunden und sechs knallgelbe Folgen aus Springfield später überlegt sich Michael in die Bar von gestern Abend zu gehen, um Nachforschungen an zu stellen.
In der S-Bahn denkt Michael weiter darüber nach, was das ganze zu bedeuten hat. Normalerweise würde er nun in der Badewanne liegen und auf die selbst gemachte Pizza im Backofen warten. Und was macht er? Er sitzt zwischen einem Punk, der wohl sein erstes Geld seit Wochen lieber in eine Dusche, als in ein Fahrticket hätte investieren sollen, und einer Mutter, die ihr quengelndes Baby nicht wirklich unter Kontrolle hat, weil sie sich auf den halb aufgegessenen Döner konzentrieren muss. Nach 4 Stationen und gefühlten achtundvierzig-einhalb Minuten Schweiß-Knoblauch-Geruch ist Michael da. Einige Meter zu Fuß und er erreicht die HörBar. Wie fast jeden Samstag nimmt der Abend hier seinen Lauf. Die Musik ist gut, die Atmosphäre chillig und die Getränke bis 24 Uhr günstig. Danach sind sie meist eh in einem der zahlreichen Clubs der Stadt und zappeln angetrunken zu den gängigsten Liedern der Nachkriegszeit.
Die Kellnerin kommt auf Michael zu und begrüßt ihn mit einem Lächeln. „Hallo Michael. Na, schon wieder fit von gestern?“ fragt sie, dabei mit dem Arm auf einen freien Stuhl an der Bar deutend. Michael nimmt Platz und antwortet: „Hallo Maren. Ja, bin wieder recht fit. Ich wusste gar nicht, dass Du auch sonntags arbeitest?!“ „Ich musste heute für Mandy einspringen, die plötzlich krank geworden ist.“ Nach einem Willkommens-Bier muss Michael seine Lieblingsbedienung nach dem gestrigen Abend fragen. Aber alles war wie immer. Und Maren hat nichts Ungewöhnliches an Michaels Finger bemerkt, als sie die Bar verlassen haben. „Komisch. Ich komm einfach nicht drauf, woran mich der Faden erinnern soll.“ – „Schon an Jahrestag, Geburtstag oder so gedacht?“ – „Natürlich…“ „Tut mir leid, dann kann ich Dir auch nicht weiter helfen. Aber vielleicht kann man Dir in einer der Clubs, in denen ihr später noch ward einen Hinweis geben“ sagt Maren und spült weiter Weizengläser aus.
Nachdem Michael bezahlt hat, geht er aus der Bar, und fährt mit der letzten S-Bahn der Nacht in den einzigen Club, an den er sich noch erinnert, gestern auch darin gewesen zu sein. Doch auch dort kann man ihm nicht weiterhelfen. Zuhause würde er nun in Ruhe einen guten Film schauen. Und nun sitzt er neben „Onkel Heinz“, der im Nachtclub seiner Wahl sozusagen zur Einrichtung gehört. Sie tratschen über alte Zeiten, treffen weitere bekannte und unbekannte Gesichter. Schnell lernt Michael eine nette Dame kennen, und nach einigen Drinks werden die Nummern ausgetauscht. So langsam denkt er schon gar nicht mehr, was er an einem normalen Sonntag zu Hause machen würde. Es ist auch so ein angenehmer Abend geworden. Auf dem Weg zur Taxi-Sammelstelle öffnet er die Schleife am des Bindfadens an seinem Finger und schmeißt ihn in eine Mülltonne.
„Ah, – hicks – ein Amt“ sabbelt Michael vor sich her, als er am Standesamt der Stadt vorbeischlendert. Ein Taxi, in welches er sich hineinfallen lassen kann, ist schnell gefunden. Mit leichten Verständigungsproblemen kann er dem netten, aber der deutschen Sprache eher mäßig mächtigem, Fahrer dann doch noch erklären, wo er eigentlich hin will, und macht sich bereit für geschätzte 10 Minuten Schlaf. Doch dann hört Michael einen Ruf aus Lenkradrichtung: „Sie nicht junge Mann von gestern Abend?“ „Ähm… Kein Plan, Mann,“ erwidert Michael. „Doch, doch, Sie kommen bekannt vor. War gestern Abend mit junge Frau und andere junge Mann hier. Die anderen beiden eher ausgestiegen sind und Frau Ihnen Band um Finger gemacht.“
Plötzlich war Michael wieder hellwach. Immer noch betrunken, aber wach. „Der Faden. Ja, genau, ein Faden! Wissen Sie, was der zu bedeuten hat?“ platzt es aus ihm heraus. „Hat Dame gesagt, Sie sollen an etwas erinnert werden. An Versprechen, Sonntag nicht lahm, wie jede Woche zu verbringen, sondern zu leben, und etwas ungeplantes und spontanes zu machen.“
Da war sie, die Erleuchtung. Das hätte Michael gedacht. Wäre er nicht bereits eingeschlafen. Am nächsten Morgen klingelt sein Wecker, und er macht sich bereit für die Arbeit. Nach dem Duschen und dem Essen geht er seines Weges. Ohne Faden am Finger, und ohne Abhaken an seiner Liste. Verkopft und Michael? Das passt wie Faust zu Schiller…
Schöne Geschichte.
Hast ja bald ne ganze Sammlung zusammen!