Gedanken einer 17-Jährigen: Ein wahre Heldin und ihre Geschichte gedanken-einer-15-jaehrigen-livia-2017

Helden müssen nicht die Welt retten, sondern sie nur ein klein bisschen besser machen. Und das hat meine Ur-Oma gemacht. Sie war eine Zeitzeugin aus einer längst vergangenen Zeit. Ihre Geschichte ist eine Geschichte von vielen aus dieser Zeit, aber trotzdem etwas anders.

Und obwohl sie schrecklichsten Dinge erlebte, war ihre Botschaft aber immer: Niemals vergessen aber trotzdem das Leben lieben! Und so hat sie immer versucht anderen zu helfen und zwar mit den wenigen Mitteln die sie eben hatte. Deshalb steht für mich niemand mehr für die Eigenschaften „Kraft“, „Mut“ „Aufopferung“ und „Bescheidenheit“ ein. Sie würde in 2 ½ Jahren 100 Jahre alt werden und trotzdem hat mich die Oma meines Vaters noch die ersten 15 Jahre meines Lebens begleitet, was mich auch sehr stolz macht. Auch ihr habe ich es zu verdanken, dass ich so bin, wie ich bin.

Deswegen möchte ich ihre Geschichte erzählen. Weil man sie und ihre Geschichte nicht vergessen darf. Für mich ist sie ein Sinnbild als Vorbild für Menschlichkeit. Ich habe mich oft mit ihr unterhalten, weil ich immer wissen wollte, wie so ihr Leben als Teenager war. Diese ganzen Gespräche habe ich schon vor einiger Zeit aufgezeichnet und aufgeschrieben. Nun glaube ich ist auch der richtige Zeitpunkt gekommen, es zu veröffentlichen.

Aber von vorne. Die Geschichte beginnt im Jahr 1922.

Meine Ur-Oma wurde als Maria Erlacher geboren und zwar am 13. Oktober 1922. In dieser Zeit der Weimarer Republik hat Reichspräsident Friedrich Ebert gerade das „Lied der Deutschen“ zur Nationalhymne des Deutschen Reiches bestimmt. Die Sowjetunion und die NSDAP wurden gegründet und Adolf Hitler war für drei Monate wegen Landfriedensbruch in der Haftanstalt Stadelheim.
Aber die Familie meiner Ur-Oma lebte nicht in einer Stadt, sondern in einem ganz kleinen Dorf namens Halfing in der Nähe von Rosenheim. Also eigentlich bestand Halfing damals lediglich aus ein paar Bauernhöfen und einer Kirche. Und einer dieser Bauernhöfe gehörte seit Generationen der Familie Erlacher, bestehend aus den Eltern Josef und Philomena sowie den fünf Kindern, und die zweitgeborene der Familie war meine Ur-Oma Maria.

Gedanken einer 17-Jährigen: Ein wahre Heldin und ihre Geschichte Familie-erlacher-ca-1933-foto

In dem kleinen Dorf, in dem die Familie lebte, bekam man von dem Rest der Welt nicht viel mit, wie mir meine Ur-Oma oft sagte, weil es damals noch kein Radio gab bzw. man es sich später dann auch nicht leisten konnte. Sie bekamen so nichts mit von einer Gründung der Sowjetunion oder wussten 1922 auch noch nicht, dass ein gewisser Adolf Hitler überhaupt existierte. Ihre Hauptsorge war einfach, so gut wie es geht über das Jahr zu kommen, ohne zu hungern und ohne zu frieren.

Im Jahr 1928, als die ersten Fernsehbilder aus der Funkausstellung gesendet wurden, wurde meine Ur-Oma in der Volksschule eingeschult. In dieser Dorfschule, die übrigens in einem anderen Dorf war, wurden immer zwei Jahrgänge zusammengefasst. Der Unterricht dauerte in der Regel von 08:00 bis ca. 16:00 Uhr mit einer Stunde Mittagspause. Zum Frühstück gab es eine Tasse Getreidekaffee und zum Mittagessen gab es ein Stück Brot. Erst zum Abendessen wurde versucht, etwas Warmes auf den Tisch zu bringen, in der Regel so etwas wie Brotsuppe oder Roggennudeln. Also Brotsuppe wurde mit Zwiebeln und heißem Wasser oder heißer Milch gemacht und Roggennudeln sind eine Art Dampfnudeln aus Roggenmehl, dazu gab es auch oft Pilze aus dem nahegelegenen Wald. Nach der Schule mussten alle Geschwister im elterlichen Bauernhof mitarbeiten. Die Kleidung wurde natürlich immer von ihrer Mutter Philomena selbstgemacht und meine Ur-Oma hatte auch nur zwei Garnituren, also eine für den Sommer und die andere für den Winter. Im Jahre 1932, als sie 10 Jahre alt war, kam der erste Dorfarzt nach Halfing. Das wusste meine Ur-Oma deshalb noch so genau, weil der Dorfarzt ein Auto hatte und sie damals das erste Mal überhaupt ein Auto zu Gesicht bekam. Bis dahin waren Kutschen mit Pferden das übliche Fortbewegungsmittel.

Zwei Jahre nachdem die Weimarer Republik zu Ende ging und Adolf Hitler an die Macht kam wurde meine Ur-Oma im Jahr 1935 nach sieben Jahren aus der Volksschule mit 13 Jahren mit einem erfolgreichen Abschluss entlassen. Was meiner Ur-Oma auch nach so langer Zeit noch besonders im Gedächtnis blieb, war, dass die Lehrer nur mit Fräulein oder Herr, dem Titel und mit dem Namen angesprochen werden durften und der Rohrstock sehr oft zur „Züchtigung“ der Schüler eingesetzt wurde. Wie sie mir gesagt hat, traf es zwar meistens die Jungs, aber trotzdem hatte sie oftmals Tränen in den Augen, als sie mir aus dieser Zeit erzählte.

Ab dem Jahr 1936 musste sie, wie auch jedes andere 14-jährige Mädchen in Halfing, als Magd auf einem der größeren Bauernhöfen arbeiten. Dafür bekam sie in der Woche zwei Mark (einen Euro) sowie Unterkunft und Essen. Die Arbeit als Magd war sehr schwer. Jeden Tag um 03:00 Uhr in der Früh musste sie aufstehen, um auf das Feld zu gehen und mit einer Sense beginnen, zu mähen. Anschließend musste sie bei der Stallarbeit mithelfen und um ca. 07:00 Uhr gab es dann ein Frühstück. Das Frühstück war aber auch nur ein Getreidekaffee und etwas Brot. Bis mittags war wieder Feldarbeit angesagt und am späteren Nachmittag wieder Stallarbeit. Diese Arbeiten waren immer von Montag bis Sonntag. Also praktisch jeden Tag. Als meine Ur-Oma 1939 in meinem jetzigen Alter war, also kurz vor ihrer Volljährigkeit stand, begann der zweite Weltkrieg.

Der Bauernhof, auf dem meine Ur-Oma damals als Magd lebte und arbeitete, verdiente sein Geld mit dem Verkauf von jungen Kälbern. Nur zum Abendessen wurde auch mal das Radio eingeschaltet. Strom gab es damals in diesem Dorf aber noch nicht. Das Radio wurde von aufladbaren Batterien betrieben. Zum Aufladen der Batterien musste sie immer in das Elektrizitätswerk nach Wasserburg am Inn gehen, was ca. eine Stunde zu Fuß entfernt war. Hier wurde dann die Batterie aufgeladen.

Als dann 1939 der 2. Weltkrieg begann, hätte man in Halfing nicht viel davon mitbekommen, wenn nicht alle Männer in die Armee abgezogen worden wären. So wurde auch ihr Vater und der jüngere Bruder (der damals noch minderjährig war) meiner Ur-Oma dazu gezwungen. Die Lichter durch das Feuer der großen Luftangriffe auf München irgendwann 1944 konnte man sogar bis nach Halfing sehen. Meine Ur-Oma sagte mir, dass es das erste Mal war, dass sie etwas vom Krieg so nah mitbekam und ihr damals auch eines bewusst wurde, auch, dass sie ihren Vater und ihren Bruder nie mehr sehen würde. Und so war es dann auch. Ihr Vater und auch ihr Bruder hatten den Krieg nicht überlebt, sie kamen nicht mehr zurück.

Auch nach dem Krieg 1945 gab es in dieser Gegend noch länger keinen Strom und somit natürlich auch noch keine Kühlschränke. Deshalb gab es nur immer geräuchertes Fleisch zu Essen. Den ersten Kühlschrank hatte meine Ur-Oma dann auch erst Anfang der 50er Jahre. Kurz nach dem Krieg lernte sie dann auch meinen Ur-Opa kennen. Als Martin und Maria Flori bauten sie sich eine Familie und einen eigenen Bauernhof in der Nähe von Eiselfing bei Wasserburg am Inn auf.

Doch das Glück hielt leider nicht sehr lange. Im Jahr 1955 als Bundeskanzler Konrad Adenauer in der Sowjetunion war und erreichte, dass die letzten deutschen Kriegsgefangenen entlassen und nach Deutschland zurückkehren dürften, hatte mein Ur-Opa im Alter von 44 Jahren einen tödlichen Motorradunfall. So stand meine Ur-Oma als 34-Jährige mit drei kleinen Kindern und einem Bauernhof plötzlich alleine da. Eigentlich ist das ein Unglück, das eine Familie zerstört, aber durch puren Willen und Stärke hat sie es irgendwie geschafft, den Bauernhof alleine zu bewirtschaften und ihre drei Kinder zu versorgen. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie fühlte oder nachts träumte. Denn das waren Themen, über die sie niemals sprach.

Aber kurz nach dem Tod ihres Mannes nahm sie sogar noch zwei weitere Kinder aus ihrem näheren familiären Umfeld auf. Denn diese zwei Kinder hätten die Armut ihrer Herkunft wahrscheinlich nicht überlebt, wenn meine Ur-Oma sie nicht aufgenommen hätte. Es waren ledige Kinder. Damals war nämlich eine Zeit in der ledige Mütter oftmals keine Chance hatten, für ihre Kinder aufzukommen. Damals wurden ledige Mütter oft sogar von der Gesellschaft verstoßen. Was in diesen beiden Fällen so war. Aber da meine Ur-Oma einen Bauernhof hatte, war es für sie auch möglich, diese zwei Kinder aufzunehmen. Dafür bekam sie nichts, außer der Dankbarkeit der Kinder, und so nahm sie ihr Schicksal an. Alleine mit fünf Kindern, der Trauer und dem Schmerz der Vergangenheit, bewältigte sie die nächsten Jahre. Aber sie machte das gerne und das hat sie mir immer wieder gesagt, weil sie es als ihre Aufgabe sah.

So vergingen die Jahre und die Kinder wurden älter. Ihr Sohn Martin Flori unterstützte meine Ur-Oma immer mehr und übernahm nach und nach viele Arbeiten auf dem Bauernhof. Bis er 1991 unter tragischen Umständen ebenfalls wie sein Vater schon mit 44 Jahren durch einen Unfall starb. In einer Zeit, in der sich Mauern und Herzen öffneten, wurde ihres wieder gebrochen. Wieder ein Verlust, der qualvoller für meine Ur-Oma nicht sein konnte. Und trotzdem hielt sie damals die Familie wieder zusammen. Wieder übernahm sie die Verantwortung und war ein Vorbild für alle und gab anderen die Kraft um mit dem Schicksalsschlag fertig zu werden, und das bis zum letztem Tag.

So habe ich meine Ur-Oma kennengelernt. Als eine Frau die nicht an sich denkt, sondern immer nur versucht, das Beste aus den anderen rauszuholen. Wenn sie mir ihre bewegende Geschichte nicht erzählt hätte, wäre die Wahrscheinlichkeit sehr groß gewesen, dass ihre Leistungen und ihre Botschaft verloren gegangen wären. Und das ist das Letzte, was ich will. Denn Menschlichkeit ist nicht nur ein Wort. Menschlichkeit ist der Unterschied, der uns zum Menschen macht. Deshalb denke ich, wenn jemand ein Bundesverdienstkreuz verdient hätte, dann sie.

Als ich ihr damals als 13-Jährige meinen ersten Artikel im Münchner Samstagsblatt gezeigt habe, der über die Flüchtlingswelle bei uns 2015 am Münchner Hauptbahnhof ging, sagte sie zu mir damals „Hör nicht damit auf, mach immer weiter, denn niemand bittet aus Spaß um Hilfe“. Damals als 13-Jährige habe ich das noch nicht so verstanden, aber jetzt weiß ich was sie damit meinte. Nicht nur als Andenken an meine Ur-Oma, sondern auch, weil sie ein Teil von mir ist, werde ich immer auf diese Themen hinweisen, die meiner Meinung nach nicht richtig laufen. Denn ich bin sehr stolz ein Nachkomme von Maria Flori, einer der stärksten Frauen zu sein.

Ich glaube, wir Jugendliche können uns das gar nicht wirklich vorstellen, wie es vor 100 oder 50 Jahren war. Also ich kann es nicht, denn bei meinem 18. Geburtstag beginnt hoffentlich kein Weltkrieg. Deshalb bin ich so dankbar, so viel von einer echten Zeitzeugin erfahren zu haben. Wir bei uns in Deutschland haben doch alle Möglichkeiten. Diesen Luxus haben aber auch 2020 nicht jedes Land und nicht jeder Mensch auf unserer Erde.

Und so möchte ich zum Schluss nochmals die Botschaft meiner Ur-Oma sagen: Niemals vergessen aber trotzdem das Leben lieben! Danke Uri!

Junior-Bloggerin Livia (Website) aus München ist trotz ihrer jungen Jahre bereits eine alte Häsin hier. Als Erste Kolumnisten ist sie bereits seit September 2015 hier aktiv und schreibt monatlich über gesellschaftliche Dinge aus der Sicht einer modernen Jugendlichen.
Beitrag von: Livia Sonntag, 15. Dezember 2019, 13:40 Uhr

3 Kommentare

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